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Spriessige Gesellschaft

28. Dezember 2021

Ich bin ein Halbstadtkind. Aufgewachsen in der Agglomeration von Basel, im Reihenhaus mit quadratisch-praktischem Garten mit einem Johannisbeerstrauch. Rote Johannisbeeren waren das einzige, was in unserem Garten essbar war. Ich mochte sie nicht. Sie waren mir zu sauer. Unser Reihenhausgarten war so lang wie vier Purzelbäume. In den Ferien war ich ein Landkind in einem kleinen Bauerndorf bei den Grosseltern. In ihrem riesigen Garten wuchs alles: Erdbeeren, Aprikosen, Äpfel, Birnen, Kirschen, Tomaten, Salat, Blumenkohl, Erbsen und viel mehr. Gewürzkräuter, Teekräuter, Heilkräuter. Eine Million Blumen. Zwischen all den Bäumen, Sträuchern und Beeten tat sich eine riesige Spielwiese auf. Mein Paradies.

Heute bin ich ein Halbstadtkind mit einem eigenen grossen Garten. Dieser wächst mir regelmässig über den Kopf. Da ich keinen Ehrgeiz an den Tag lege, was die Tilgung des Unkrauts betrifft, müssen es die Gewächse unter sich ausmachen, wer wo wie viel Platz für sich beanspruchen darf. So leben Löwenzahn, Spitzwegerich, Gänseblümchen, Gundermann, Nachtkerzen und Co. friedlich miteinander und breiten sich selbstbewusst über Wiese und Borten aus. Co-Living eben. Andere Pflanzen wie etwa Salbei, Thymian, Oregano, Kamille oder Kapuzinerkresse, die ich gepflanzt hatte, fielen den Schnecken zum Opfer. Der üppige Rosmarinbusch trotzt allen Widrigkeiten wie Hitzewelle, Hagelschauer, Frost oder Nutzniessern und verbreitet ungetrübt seinen mediterranen Charme. Das Hochbeet ist mein Hoheitsgebiet. Zucchini, Karotten, Peperoni, Radieschen, Pflücksalat und Co. teile ich nicht mit den Schnecken. Vernichten will ich die Schnecken nicht. Die können ja nichts dafür, dass sie so sind, wie sie sind. Friedlich miteinander und nebeneinander leben, anstatt sich zu bekämpfen. Dankbar sein für das, was da ist, anstatt möglichst viel für sich selbst zu beanspruchen. So sehe ich die ideale Welt. Co-Living eben. Und so blüht das Halblandkind neben dem Halbstadtkind immer mehr auf.

Jetzt liegt der Garten im tiefen Winterschlaf. Während der Sturm über ihn hinweg fegt, sammelt die Natur unterirdisch Kraft, um sich im Frühling wieder energisch auszubreiten. So hat alles seine Zeit und alles hat seinen Platz. Manchmal tut es auch uns ganz gut, uns zurückzuziehen und Energie zu tanken, um dann zu gegebener Zeit wieder neue Ideen spriessen zu lassen.

Professor I. verfolgt zurzeit eine heisse Spur im Wintergarten.



Frühling, bist du’s?

24. April 2021

Sind das Frühlingsgefühle, die in der Nase kitzeln? Die Tauben turteln im Baum; Raben, Spatzen und Rotkehlchen planschen ausgelassen im Vogelbad; hie und da durchforstet ein Igel den Garten. Die ersten Bienen arbeiten die prallgelben Löwenzahnblüten im Akkord ab. Und dann ist da noch dieser dicke Kerl, der in meinem Garten sein Unwesen treibt. Er stolziert selbstbewusst über meinen Sitzplatz, räkelt sich auf meinem Gartenstuhl und lässt sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Ob Professor I. ihm hinter der Gartentür den Marsch bläst oder die Meinung geigt – der Kerl hat kein Musikgehör. Aber Knigge. Als wohlerzogener Streuner verrichtet er sein Geschäft natürlich nicht an beliebigem Ort, nein, er hat mein Hochbeet zu seinem privaten Katzenklo erklärt. Das war’s mit dem Salat. Dem dicken Kater ist das wurscht.

Professor I. appelliert an die Vögel: Mind the cat!



Chamäleon

4. Januar 2021

Woran erkennt man eigentlich einen Texter? Nennen kann sich jeder so. Vielleicht hat ein Texter die eine oder andere Stirnfalte mehr als ein Bäcker oder ein Uhrmacher. Und er trägt immer einen Schreibstift hinter dem Ohr und Notizpapier in der Hosentasche. Auch neben Bett, Sofa, Klo und Badewanne sind Schreibzeug und Notizbuch stets einsatzbereit. Aber das macht noch keinen Texter aus. Es gibt nur eins, an dem man einen Texter erkennt: am Text. Und zwar dann, wenn man den Text liest und denkt: Ach ja, genau so hätte ich das auch gesagt. Das ist das Ergebnis der einsamen Arbeit eines Texters. Er passt sich stets seinem Umfeld und dessen Tummelvolk an, wird selbst Teil davon. Ein Texter ist ein Chamäleon. Mit Stirnfalten.

Professor I. gibt zu bedenken, dass über 200 Arten von Chamäleons beschrieben werden.



Die volle Kopfleere

22. Dezember 2020

Wenn einem einfach nichts mehr einfällt, totale Sonnenfinsternis im Kopf herrscht, man verzweifelt und vergeblich nach einem allerletzten sinnvollen Gedanken in seinen Hirnwindungen sucht – obwohl so ein Gedanke je nach Grösse des Gehirns und der Anzahl Windungen von der Einspeisung bis zum Verarbeitungszentrum natürlich auch so seine Zeit braucht – und einem auch bei optimaler Antennenausrichtung kein Gedankenblitz einfährt, tja dann, was dann?

Diese Frage beschäftigt mich schon lange. Ich finde aber keine Antwort darauf. Denn ich verstehe die Frage nicht. Wie kann ich nicht denken? Wie kann einem nichts einfallen? Menschen meditieren, oder versuchen es angestrengt, um ihren Kopf von dem vielen Plunder für fünf Sekunden zu befreien. Die Gefahr, dass einem nichts mehr einfällt, schätze ich ungefähr so gross ein wie das Risiko, dass einem eine Wolke auf den Kopf fällt. Die Frage müsste doch lauten: Wie sortiere ich das ganze Kopfgeplauder? Einfache Frage, einfache Antwort: den Kopf schütteln.

Professor I. tauscht sich gegenwärtig intensiv mit anderen Professoren seines Gebiets aus.



Papperlapapp

27. Juli 2020

Floskeln sind böse. Nichtssagend und verstaubt. Nebelwörter. Die Floskelfalle lauert überall: «In dieser Art und Weise; wir kennen es alle; für Rückfragen stehen wir Ihnen gerne jederzeit zur Verfügung; das hat was; mit freundlichen Grüssen.» Sichere Sätze – leere Worte. Insgeheim mögen wir Floskeln und Sprachschablonen. Warum? Weil sie uns vertraut sind, uns Nähe und Sicherheit vermitteln. Floskeln durch neue Formulierungen zu ersetzen braucht Mut. Ungewohnte Formulierungen können bemüht und aufgeblasen wirken und sogar misstrauisch machen. Bevor wir also übereifrig auf Floskeljagd gehen und die stereotypen Ungeheuer gnadenlos ausrotten, lassen wir sie mal auf uns wirken. Bei welchen ist die Luft raus und ein Wiederbelebungsversuch zwecklos? Welche vermitteln ein vertrautes, behagliches Gefühl? «Wir möchten uns an dieser Stelle ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken.» Das war jetzt nur so dahingefloskelt.

Professor I. grüsst freundlich.



Der springende Punkt

12. Juli 2020

Wer ihn sieht, hat das Auge für das Wesentliche. Warum springt der Punkt? Weil das Wesentliche niemals starr ist. Das Wesen des Wesentlichen ist immer in Bewegung – es klammert sich nicht fest an beständigen Werten, überholten Traditionen, verstaubten Annahmen und Ansichten. Richten wir den Blick auf das Wesentliche, stellen wir fest, dass es sich wandelt. Lokal. Global. Von gestern auf heute, von heute Morgen auf heute Abend. Zum Glück! Bewegung ist Entwicklung. Würde der Punkt stillstehen, was wäre dann? Es wäre das Ende von allem. Punkt. Schluss. Aus. Der springende Punkt ist der Herzschlag des Zeitgeists. Trendy, wer ihn im Auge behält – ausdauernd, wer ihm hinterherspringt.

Professor I. rät: Füttern Sie Ihren springenden Punkt regelmässig – und ausreichend.



Ich habe eine Meise

11. Mai 2020

Genau genommen handelt es sich um eine ganze Meisen-Familie. Vor meinem Fenster, das sich direkt hinter meinem Bildschirm befindet, hängt ein Meisen-Nistkasten. Da hing er auch schon letztes Jahr, blieb aber unbewohnt. Kürzlich wurde die Wohnung an erhöhter Lage – sicher vor Nesträubern wie Katzen, Mardern und Füchsen – frisch bezogen und die Familienplanung sogleich in Angriff genommen. Der Nachwuchs liess nicht lange auf sich warten. Nun setzen zwei Meisen im Job-Sharing alles daran, die mir unbekannte Anzahl an Mäulern fast im Minutentakt zu stopfen. Unaufhaltsam fliegen sie in der Gegend herum, fliegen ihre Wohnung über verschiedene Flugschneisen an und transportieren alles, was die Vogelkinder begehren, durch den kleinen runden Eingang. Bleibt zu hoffen, dass die Vogelkinder rechtzeitig das Nest verlassen, bevor sie nicht mehr durch die Öffnung passen.

Professor I. ist über einen Kommentar zum aktuellen Flugverkehr erhaben.



Mensch! Ärgere dich nicht.

13. April 2020

Neulich habe ich mich dabei ertappt, wie ich mich nicht mehr dran erinnern konnte, worüber ich mich gerade geärgert hatte. Es war plötzlich nicht mehr wichtig. Anstatt weiter darüber nachzudenken, entschloss ich mich, einen Kuchen zu backen. Einen Kuchen zu backen, ohne gleichzeitig lustige Katzenvideos zu schauen. Ohne möglichst schnell fertig zu werden – im Kopf schon wieder die nächste Aktivität planend. Ohne zu telefonieren, während die Schokolade im Wasserbad schmilzt. Jede Zutat mit Sorgfalt hinzugebend, bis alles ein stimmiges Ganzes war. Was für ein gutes Gefühl, einfach mal gemütlich zu sein. Das macht den Kopf verblüffend frei und schafft Raum für neue Ideen. Für vielleicht bessere Ideen. Die Welt braucht gerade neue, bessere Ideen, wie das Leben auf diesem Planeten in Zukunft aussehen könnte. Wo neue Arbeitsplätze entstehen könnten, neue Formen des Zusammenlebens, neue Schulkonzepte, neue Perspektiven. Wie oft denken wir in den gewohnten Bahnen. Ärgern uns über die Politik, die Nachbarn, die Raser, die Werbeanrufe, das unpassende Wetter. Wie wär’s, einfach mal mit dem Sichärgern aufzuhören und stattdessen zuzuhören – dem eigenen Kopfwerk, dem unermüdlichen Produzenten neuer Ideen? Nutzen wir doch mal die erneuerbaren Ressourcen in unseren Köpfen!

Professor I. widmet sich derzeit ausgedenten Schlafstudien.



Die Komma-Krise

2. April 2020

Die einen finden Kommas überflüssig, andere sind geradezu fanatische Kommasetzer. Ich bin ein Freund des Kommas, absolut. Ja, ich liebe es geradezu! Das Komma ist viel kommunikativer als der Punkt, zum Beispiel. Es ist aufmerksamer als der Strichpunkt, geistreicher als der Gedankenstrich, raffinierter als der Doppelpunkt. Der Punkt sagt: Fertig. Ende. Aus. Das Fragezeichen steht fragend da und wünscht sich vielleicht, es wäre ein selbstbewusstes Ausrufezeichen.

Das Komma sagt: Warte kurz, es geht gleich weiter. Für einen kaum fassbaren Moment hält uns das Komma hin. Und in diesem Augenblick erzeugt es einen Funken Spannung in uns. Was kommt nach dem Komma? Was kommt auf uns zu? Das Komma hält zurück, das Komma behält vor. Dies tut es niemals zufällig. Es sitzt – eigentlich – immer genau am richtigen Ort. Ein präzises kleines Ding mit grossem Effekt. Das Komma ist ein Meister des Erzählens. Es ist – nahezu – kompromisslos. Es weiss genau, was es tut. Es weiss genau, was es will. Es grenzt ab, aber nicht aus.

Irgendwie kommt es mir vor, als würde gerade vor die ganze Welt ein Komma gesetzt. Achtung, halte inne, warte, atme. Es geht bald weiter. Was kommt nach dem Komma? Was kommt auf uns zu? Noch weiss niemand, was hinter dem Komma steht.

Mit freundlicher Inspiration von Professor I., dem philosophiebegabten Hund